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Bild_1_Leitartikel Ari Lee

Gedenken, Hoffnung, Licht

Novemberstimmung

Der November hat seine eigene Sprache. Nebel legt sich über die Landschaft, die Tage werden kürzer, das Jahr neigt sich dem Ende zu. Es ist eine Zeit, die uns still macht, weil sie uns an die Vergänglichkeit erinnert. Zugleich eröffnet sie einen besonderen Raum: den Ewigkeitssonntag.

Ewigkeitssonntag – Hoffnung im Dunkel

An diesem Tag gedenken wir der Menschen, die uns vorausgegangen sind. Wir erinnern uns an ihre Gesichter, ihre Stimmen, an die Spuren, die sie in unserem Leben hinterlassen haben. Für manche ist es ein schmerzvolles Erinnern, für andere ein stilles Danke. In jedem Fall ist es ein Innehalten – ein Augenblick, in dem wir die Endlichkeit des Lebens ins Herz lassen und gleichzeitig die Hoffnung spüren, dass das letzte Wort nicht der Tod hat.

Die Bibel beschreibt diese Hoffnung in Bildern von besonderer Schönheit: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde … Gott wird mitten unter den Menschen wohnen. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein“ (Offenbarung 21). Eine Utopie? Gewiss. Aber eine, die uns schon heute Kraft schenken kann. Denn wer solch eine Zukunft erhofft, lebt schon jetzt anders: offener, mutiger, getrösteter.

Jüdisches Erinnern – Nachala

Auch die jüdische Tradition kennt das Gedenken an Verstorbene in tiefer Symbolkraft. Jahrzeit oder Nachala nennt sich der jährliche Todestag eines geliebten Menschen. An diesem Tag entzündet die Familie eine Kerze, die 24 Stunden brennt – ein Licht für die fortdauernde Gegenwart der Seele. Im Kaddisch-Gebet wird Gottes Name geheiligt, mitten im Schmerz, und die Hoffnung ausgesprochen auf die „Olam Ha-Ba“, die kommende Welt. Nachala bedeutet auch „Erbe“ oder „Vermächtnis“: Was bleibt, ist nicht nur Erinnerung, sondern Auftrag, das Leben im Lichte der Verstorbenen weiterzugestalten.

Ganz persönlich

Diese Tradition ist mir persönlich kostbar, denn ich bin Jüdin – und zugleich tragen auch Black und Native American Wurzeln meine Identität. Verschiedene Kulturen prägen mein Leben und meinen Glauben. Seit dem 1. Oktober bin ich Pfarrerin in der reformierten Kirchgemeinde Bürglen, wohne in Biel mit meinen beiden Kindern und unserem Kater. Ich habe in Bern und Genf studiert, mein Vikariat an der Offenen Kirche Elisabethen in Basel absolviert. Neben der Theologie liebe ich Musik, singe gerne Gospel, engagiere mich in Vereinen, lache viel, gehe gern spazieren und setze mich besonders gegen Antisemitismus ein. All das sind für mich Wege, wie Hoffnung Gestalt gewinnt – im Glauben, in Gemeinschaft, in Lebensfreude.

Ausblick auf den Advent

Der Ewigkeitssonntag verbindet das Erinnern mit der Hoffnung. Er ruft uns dazu auf, die Spuren der Verstorbenen nicht zu verlieren, sondern sie zu hüten wie ein Vermächtnis. Und er öffnet uns den Blick auf Gottes Zukunft, die größer ist als unser Begreifen.

So liegt in diesem Novembertag auch schon ein leiser Ausblick auf den Advent. Denn beides gehört zusammen: das Erinnern an die Vergänglichkeit und das Warten auf das Licht, das in die Dunkelheit kommt. Advent heißt: Wir erwarten Hoffnung. Wir halten die Sehnsucht wach. Wir entzünden Kerzen gegen das Dunkel und glauben daran, dass ein neues Licht aufscheint.

Schlussgedanke

Möge dieser November für uns alle eine Zeit sein, in der wir uns von der Erinnerung trösten lassen, die Hoffnung neu entdecken – und mit offenen Augen dem Licht entgegengehen, das kommt.

Pfarrerin Ari Yasmin Lee, Bürglen